In jedem Ende liegt ein Anfang. Es brodelt dieser Tage in der Deutschen Demokratischen Republik, in meiner Heimat. Schon den ganzen Sommer sind Tausende Bürger geflüchtet. Jetzt gehen die Menschen auf die Straße. 40 Jahre DDR, doch viele haben die Schnauze voll. Es ist der 7. Oktober. Eigentlich soll der Jahrestag gefeiert werden, aber in Berlin und Leipzig protestiert man – für freie Wahlen, Reisefreiheit, Versammlungsrecht und Meinungsfreiheit. Wir sind unzufrieden im Osten. Wir haben schon länger geahnt, dass es irgendwann knallt. Fünf oder sechs Tage Arbeit in der Woche und doch können wir uns nicht kaufen, was wir brauchen. Zehn Jahre wartet man auf ein Auto. Es gibt kaum Materialien zum Bauen. Fernseher sind nicht bezahlbar. Für abwechslungsreiches Essen steht man an. Stundenlang. Zugeteilt wird es trotzdem. Knappe Waren wie Ananas oder Wassermelone gibt es nur über Beziehungen. Und all diese Sachen hat es in den letzten Jahren immer weniger gegeben.
Ich arbeite im VEB (Volkseigener Betrieb) Mansfeld Kombinat "Wilhelm Pieck" in Hettstedt. Auf dem Betriebsgelände gibt es eigentlich alles. Elektrische und mechanische Abteilungen, eine Poliklinik, Mülldeponie, Bücherei, Freibad. Sogar die Polizei und die SED haben eine Zentrale. Im Walzwerk bin ich zum Abteilungsleiter aufgestiegen. Wir haben eine strenge Vorgabe: Produktionssteigerung mit möglichst wenig Aufwand. So sollen wir unseren Nachbarn, die Bundesrepublik, nicht nur einholen. Wir sollen sie überholen.
Ich glaube, unsere Führungsspitze mogelt öfter bei den Betriebszahlen. Planaufgaben werden auf dem Papier übererfüllt, aber die Produktionsmenge meiner Abteilung ändert sich nicht. Vielleicht ein Schein, der gewahrt wird? Der DDR geht es gut, das sollen alle sehen. Einige meiner Freunde haben eine Theorie. Sie glauben, die Republik würde schon bald von der Landkarte verschwinden. Sie glauben, wir werden bald Teil des Kapitalismus, Teil der BRD. Ich glaube nicht daran.
Steckbrief
Manfred Twardy aus Siersleben ist verheiratet und hat zwei Kinder.
- 1942 geboren in Buchenhain (heute Polen), durch den Krieg vertrieben
- 1948 nach Siersleben gezogen
- 1957 Ausbildung zum Buntmetallzieher im "VEB Mansfeld Kombinat Wilhelm Pieck" in Hettstedt
- 1969 Qualifizierung zum Industriemeister
- 1972 Meisterstellung in zwei Abteilungen der Aluminium-Draht- und Seilherstellung
- 1981 Auszeichnung zum Metallurgen
- 1983 Schichtingenieur
- 1984 Abteilungsleiter mit unbefristetem Arbeitsvertrag
- 1997 Entlassung im Walzwerk Hettstedt
- Seit 1997 erst arbeitslos, dann Rentner