"Ich war ein gutes Systemkind"
An die Fahnenapelle hat Zsikin jedoch nicht ausschließlich positive Erinnerungen. "Ich kann mich gut daran erinnern, dass dort leider auch Schüler vorgeführt wurden, die negative Sachen gemacht hatten", so die 35-Jährige. Dennoch hätten der stark vorstrukturierte Alltag und die feste Aufgabenverteilung den Schülern Sicherheit und eine Identität geboten. "Du wusstest, wer du bist. Da wusste man schon ziemlich zeitig - ich bin jetzt das starke, sportliche Kind, was gerne malt", erzählt die Künstlerin.
Hat ihr der Pionieralltag wirklich so sehr gefallen? "Oh ja", flüstert sie mit strahlenden Augen und nickt. Dann lächelt sie und fügt hinzu: "Ich wurde wahrgenommen. Es hat sich jemand mit mir beschäftigt. Wenn ich besonders aktiv oder besonders fleißig war, habe ich Auszeichnungen bekommen, ich wurde geehrt, es gab Urkunden." Dann zögert sie kurz und grinst. "Warum sollte ich das in Frage stellen? Ich war ein gutes Systemkind."
Zsikin war eine sehr gute Schülerin, die in dem System vollkommen aufging. "Die Lehrer haben wirklich Zeit für dich gehabt", sagt sie, während sie gedankenverloren an ihrem Armreif herumspielt. "Du wurdest irgendwie zum Menschen geprägt und hast dabei Wissen mitbekommen."
"Innerhalb von einem Jahr hörte einfach alles auf"
Veränderungen hatte die 35-Jährige Ende der 1980er-Jahre kaum bemerkt. "Die Wende kam für mich von heute auf morgen", sagt sie heute. Zsikin ist zehn Jahre alt, als die Grenzen sich öffnen. Viele seien anschließend "in den Westen gegangen". Die festen Gruppen lösten sich auf, die Arbeitsgemeinschaften fielen weg. Erst zu diesem Zeitpunkt habe sie verstanden, dass nicht alle Menschen freiwillig Pioniere waren, nicht alle das System so sehr liebten wie sie. "Ich sollte dann meine Uniform abgeben, aber niemand erläuterte weshalb", sagt Zsikin. "Innerhalb von einem Jahr hörte einfach alles auf, als ob es nie existiert hätte."
Was dann kam, überforderte sie komplett. "Du hattest keine Chance mehr, Kind zu bleiben", sagt Zsikin nachdenklich. Plötzlich habe es zahlreiche neue, junge Lehrer gegeben, der Zusammenhalt zwischen den Schülern sei nicht mehr gegeben gewesen, der soziale Kontext fehlte. Das neue Bildungssystem wurde von Leistung und Wertung dominiert.
"Im Westsystem war ich ständig ein Loser, wenn ich nicht auf 100 Prozent war." (Agnes-Julia Zsikin über das veränderte Bildungssystem)Während die Lehrer in der DDR sich Zeit für ihre Schüler genommen hatten, seien die neuen Lehrer kaum noch auf Fragen eingegangen. Auf konkrete Erinnerungen angesprochen, wird Zsikin wütend. Es habe einige Lehrer gegeben, die keine Lust hatten, sich mit ihren Schülern auseinanderzusetzen. "Der sagte halt einfach nur: ‚Wenn du es nicht kannst, dann bist du halt dumm‘", erinnert sich die 35-Jährige. Solche Lehrer vermittelten ihr das Gefühl, dass Fragen unerwünscht seien: "Da war gar nichts erwünscht außer Klappe halten, lernen und ruhig sein."